Das Glas ist halbvoll…

1.-Mai-Rede in Dietikon von Markus Späth, SP-Kantonsrat und Fraktionspräsident, Feuerthalen

Liebe 1- Mai–Festgemeinde
Liebe GenossInnen

 

Ich stehe heute als Historiker und Politiker vor Ihnen. Als Historiker erlaube ich mir einen Blick zurück, als Politiker bin ich der Gegenwart verpflichtet und werde versuchen, einen Blick auf die Zukunft zu werfen. Motto und gleichzeitig Leitfrage für meine Rede: Ist das Glas halbvoll oder halbleer?

Landesstreik 1918
Vor bald 100 Jahren war die Schweiz in Aufruhr. Hundertausende von Arbeiter und Gewerkschafter – vor allem Männer, aber auch Frauen waren dabei – folgten dem Aufruf zum Generalstreik. Die SP und die Gewerkschaften hatten sich zu einem gemeinsamen Bündnis zusammengeschlossen und bildeten das Oltener Aktionskomitee. 250’000 streikten vom 12. bis zum 14. November 1918 und legten die Schweiz weitgehend lahm.
Das Bürgertum geriet in Panik. Bürgerwehren bewaffneten sich; fast 100’000 Soldaten wurden aufgeboten und gegen die Streikenden in Stellung gebracht – bewaffnet mit Stahlhelmen (zum ersten Mal) und mit Handgranaten! Die drohende Revolution in der Schweiz sollte mit allen Mitteln im Keim erstickt werden.
Die Zürcher Regierung zog sich in die Kaserne – in den Schutz der Armee – zurück, der Bundesrat versprach soziale Reformen und stellte dem Oltener Aktionskomitee ein scharfes Ultimatum. Dieses gab nach und brach den Streik nach drei Tagen ab.

Die Forderungen
Wofür gingen die Massen im November 1918 auf die Strasse und brachten die Schweiz an den Rand eines Bürgerkriegs?
Wenn wir sie heute aufzählen, trauen wir unseren Augen kaum. Gestreikt wurde nicht etwa für den politischen Umsturz in der Schweiz (Oktoberrevolution 1917 und Novemberrevolution in Deutschland). Die GenossInnen kämpften vielmehr ganz pragmatisch für konkrete Anliegen wie

  • Das Proporzwahlrecht
  • Das Frauenstimmrecht
  • Die 48-Stundenwoche
  • Die AHV
  • Die Tilgung der Kriegs-Staats-Schulden durch eine Reichensteuer
  • Den Ausbau der Lebensmittelversorgung für die unter den Folgen des 1. Weltkriegs leidenden Familien

Revolution tönt anders – zumindest aus heutiger Sicht. Revolutionäres Potenzial hatte allenfalls die Forderung nach einem Staatsmonopol für den Aussenhandel.

Stürmische Zeiten auch für Dietikon
Für viele Dietiker Arbeiterfamilien war der 1. Weltkrieg eine Zeit von Elend und echter Not. Schon 1914 musste der Hülfsverein eine Suppenanstalt einrichten. Der Gemeinderat kaufte auf Vorschlag der SP Dietikon zwei Waggons Kartoffeln und gab sie an die arme Bevölkerung zum Selbstkostenpreis weiter; angesichts der massiven Inflation und der oft fehlenden Einnahmen – Väter und Söhne waren im Aktivdienst – aber immerhin mehr als nichts. Gegen die akute Wohnungsnot wurde mangels Geld gar nichts unternommen.

125 Jahre SP-Fraktion im Kantonsrat
Die SP-Fraktion im Zürcher Kantonsrat feiert in diesen Tagen den 125. Jahrestag ihrer Gründung. Aus diesem Anlass haben wir HistorikerInnen den Auftrag gegeben, eine kleine Ausstellung zur Geschichte der SP im Zürcher Kantonsrat zu erarbeiten. Sie haben unter anderem das Arbeitsprogramm der Fraktion für das Amtsjahr 1923 zutage gefördert. 5 Jahre nach dem abgebrochenen Generalstreik tönt es weitgehend gleich – konkret, vernünftig und alles andere als revolutionär: So wird für den Kanton ein Gesetz zur Begrenzung der Arbeitszeit gefordert, die Einführung einer kantonalen Alters- und Invalidenversicherung, ein Minimallohn, Wohnungsbau auf kantonalem Land, der Ausbau des Mieterschutzes, eine obligatorische Mobiliarversicherung, eine Erbschaftssteuer und der Ausbau der Grundstückgewinnsteuer.

Wo stehen wir heute?
Viele der Forderungen unserer Vorkämpfer von 1918 und der Jahre unmittelbar nach dem Krieg sind erfüllt – einige mussten erdauert werden, die AHV wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg Wirklichkeit, das Frauenstimmrecht sogar erst 1971; die Arbeitszeit aber ist deutlich unter die geforderten 48-Stunden gesunken, der Proporz sorgt seit 1919 für eine gerechte Verteilung der Sitze in den Parlamenten. Die Sozialhilfe verhindert als letztes Auffangnetz heute, dass arme Familien durch Suppenküchen vor dem Verhungern gerettet werden müssen. Andere historische Forderungen dagegen harren noch immer der Umsetzung: Hoch aktuell bleibt die Wohnbaupolitik, einen gesetzlichen Mindestlohn gibt es in der Schweiz nach wie vor nicht. Die Erbschaftssteuer – wurde zwar eingeführt, inzwischen aber praktisch überall auch wieder abgeschafft.

… und das berühmte Glas
Ist das berühmte Glas jetzt also eher halb voll oder halb leer? Als Historiker neige ich zu einem klaren halb voll. Als Politiker füge ich aber gleichzeitig auch hinzu: leider erst halb voll. Immerhin: Viele der Forderungen, für die 1918 gestreikt werden musste, sind heute selbstverständlich. Ziele, welche für das Bürgertum und die Machthaber im Landesstreik so gefährlich waren, dass man gegen sie die Armee aufbot, werden heute nicht einmal mehr von den übelsten Rechtsaussen-PolitikerInnen in Frage gestellt.
Ich bin den Vorkämpfern von 1918 dankbar für ihren Mut: Ich bin froh, dass wir heute politisch debattieren und für Fortschritt streiten können, ohne dass man uns Soldaten auf den Hals hetzt. Von heute aus tönt das fast ein wenig absurd. Mein Grossvater aber hat das persönlich als Hilfsarbeiter bei der Neuhauser SIG erlebt.

Wofür wir heute kämpfen und wofür es sich zu kämpfen lohnt
Das Glas ist halbvoll – und trotzdem: der Kampf für Gerechtigkeit und Fortschritt geht weiter. Er kennt heute zwei Fronten: Zum einen müssen wir mit Nachdruck dafür sorgen, dass das Erreichte nicht rückgängig gemacht wird. Viele bürgerliche KöchInnen stehen mit Löffeln und grossen Suppenkellen bereit, um aus dem halbvollen Glas immer wieder substanzielle Brocken herauszufischen. Das müssen wir verhindern.
Das Glas ist nur halbvoll: noch gibt es viel Platz für weitere Fortschritte – das ist die zweite Front.
Die rot-grünen Fraktionen im Kantonsrat kämpfen an beiden Fronten – nicht ohne beachtliche Erfolge, trotz der massiven bürgerlichen Mehrheit, der wir uns gegenübersehen.

 

  • In der Gesundheitspolitik ist es uns gelungen, die Privatisierung des Kantonsspitals Winterthur zu verhindern. Die Mehrheit des Kantonsrats wurde vom Volk vor einem Jahr gestoppt.
  • Ungelöst ist das Problem der ständig steigenden Gesundheits- und Pflegekosten. Auch die für viele Familien so wichtige Prämienverbilligung stehen unter massivem Druck, hier wirkte sich die bürgerliche Sparwut der letzten Jahre besonders verheerend aus. Zwei-Klassen-Medizin ist kein Schreckgespenst, sondern schon heute Realität – dass ein 50-jähriger AIDS-Kranker im Kanton Graubünden nicht behandelt wurde sterben musste, weil er auf einer schwarzen Liste säumiger Krankenkassenprämienzahler stand, ist ein besonders krasses Beispiel, leider aber kein Einzelfall.
  • Ein besonders frecher Raubzug auf die Steuereinnahmen konnte mit dem Nein zur Unternehmenssteuerreform III auch im Kanton Zürich vor etwa mehr als einem Jahr vereitelt werden. Sie hätte uns Milliarden gekostet und zu neuen Spar- und Abbaupaketen geführt. Die revidierte Vorlage kommt nun deutlich gemässigter daher, höchste Wachsamkeit drängt sich aber trotzdem auf; wir werden uns nicht scheuen, auch hier wenn nötig das Volk als Schiedsrichter anzurufen.
  • Der nächste Privatisierungsangriff ist bereits unterwegs: im neuen Wassergesetz wollen die bürgerlichen Parteien eine Teilprivatisierung der Wasserversorgung ermöglichen, den Zugang an die Seeufer erschweren und den Gewässerschutz zu Gunsten der Bauern und der Grundeigentümer schwächen. Auch hier: Wir freuen uns auf eine Volksabstimmung zu diesem Thema.
  • Dass beim Personal seit Jahren an allen Ecken gespart wird, und gleichzeitig Steuersenkungen im Milliardenbereich aufgegleist werden, ist unerträglich. Noch skandalöser ist aber, dass Abzockerpraktiken nun sogar die ZKB, die Bank des Zürcher Volkes erreicht hat. Der CEO der ZKB verdiente in den vergangenen zwei Jahren mehr als 2 Millionen Franken, pro Jahr wohlverstanden. Das geht gar nicht, wir werden dieses Thema mit Nachdruck aufgreifen.
  • Die Frauen haben zwar seit nun schon fast zwei Generationen das Wahlrecht und theoretisch das Recht auf gleichen Lohn. In der Praxis aber gibt es noch verdammt viel zu tun. Mit zahlreichen Vorstössen und Ideen werden wir auch bei diesem wichtigen Thema dafür sorgen, dass das Glas sich auch in den nächsten Jahren wieder etwas füllt, je schneller je besser.

 

Ein Blick voraus: 1. Mai 2118
Wenn sich in 100 Jahren hier an dieser Stelle Tausend Dietiker versammeln werden, um nach alter Tradition den 1. Mai zu feiern: Wie wird dann wohl eine linke Historikerin über unser Jahrhundert urteilen, über die 100 Jahre, die zwischen 2018 und 2118 liegen? Käme sie ähnlich wie ich heute auch zu einem positiven Urteil, zum Schluss, dass das Glas eher halbvoll oder halbleer ist?
Historiker sind keine guten Propheten. Ich wage trotzdem eine Vermutung: Sie würde uns, die Menschen die zu Beginn des 21. Jahrhundert gelebt und politisiert haben, wohl nicht an den Themen messen, die in den letzten 100 Jahren matschentscheidend waren. Sie wird sich eher fragen: Haben es die Linken und die Gewerkschaften geschafft, die Arbeit auch im Zeitalter der Digitalisierung gerecht zu verteilen und menschenwürdig zu gestalten? Ist es ihnen gelungen, die verheerende Erderwärmung Schritt für Schritt abzubremsen? Haben sie dazu beigetragen, die globale Ungerechtigkeit abzubauen? Haben sie es geschafft, den rechten Populisten und Nationalisten die Stirn zu bieten? Konnten sie verhindern, dass Zuwanderer und Flüchtlinge als Sündenböcke für alles und jedes missbraucht wurden?
An solchen und ähnlichen Fragen werden wir uns in 20, 50 und 100 Jahren messen lassen müssen. Auch hier bin ich durchaus optimistisch. Die Geschichte der Sozialdemokratie und der Arbeiterbewegung zeigt: Wir waren unserer Zeit häufig voraus, langfristig aber haben sich unserer Ideen durchgesetzt. Wir können zwar auf keine erfolgreiche Revolution zurückblicken, aber auf 100 Jahre nachhaltigen sozialen Fortschritt. Erreicht haben wir dies nicht mit Gewalt, sondern mit unablässigem Engagement und politischem Kampf, Schritt für Schritt, gegen bürgerliche Mehrheiten in Regierung und Parlament, dank vieler einzelner Volksentscheide, letztlich dank der direkten Demokratie.
In diesem Sinn ist der 1. Mai, das Einstehen von Tausenden für eine gerechtere und solidarischere Welt von grösster Bedeutung. Wir demonstrieren den vielen Wutbürgern draussen im Land, dass wir uns die erreichten Fortschritte nicht nehmen und nicht vermiesen lassen. Wir zeigen, in welche Richtung es weitergehen muss, damit das halb volle Glas sich weiter füllt. Dass Sie heute hier dabei sind, ist ein wichtiges Zeichen.

 

Herzlichen Dank.